Das vergrößerte „Herz der Uhr“ – Gangmodell einer Stiftenhemmung

Viele Besucher sind begeistert von den winzigen Taschen- und Armbanduhrwerken. Wie ein Uhrwerk funktioniert, kann man dort mit bloßem Auge aber schlecht erkennen. Deshalb wurde schon früher das „Herz der Uhr“ in Schaumodellen ins Überdimensionale vergrößert. Doch für wen waren solche Modelle damals gedacht?

Zur Geschichte der Gangmodelle

Vor 1850 wurden Funktionsmodelle von Uhrwerken nur sehr vereinzelt gebaut. Erst als die ersten Uhrmacherschulen an den Start gingen, benötigte man sie vermehrt für den Unterricht der Lehrlinge. So befindet sich auch im Deutschen Uhrenmuseum ein Set mit den gebräuchlichsten Hemmungen für Kleinuhren des 19. Jahrhunderts. Sie reichen von der einfachen Zylinderhemmung über die hochwertige Kolbenzahnankerhemmung bis zum “High-End-Produkt” Chronometerhemmung. Diese Modelle wurden wohl in der Großherzoglich Badischen Uhrmacherschule in Furtwangen gebaut, der ältesten staatlichen Uhrmacherschule in Deutschland.

Diese Reihe von frühen Modellen nahm sich die Zeichnungen von Jess Hans Martens zum Vorbild, die er in seinem legendären “Atlas zur Beschreibung der Hemmungen der höheren Uhrmacherkunst” von 1858 abgebildet hatte. Martens war bis zur Schließung der ersten Großherzoglich Badischen Uhrmacherschule 1863 Lehrer für Kleinuhrmacherei in Furtwangen. Es ist wahrscheinlich, dass die Modelle, die auch die Punze der Uhrmacherschule tragen, von Martens selbst oder zumindest unter seiner Aufsicht gebaut wurden.

Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts haben Lehrlinge oder Meisterschüler als Abschlussarbeit bisweilen ein Gangmodell angefertigt. Sie konnten bei dieser Arbeit ihr handwerkliches Können zeigen und darüber hinaus beweisen, dass sie auch die zugrundeliegende Theorie und Funktion verstanden haben. Die Schüler wählten meist eine hochwertige Uhrwerkshemmung, sei es die Anker-, Chronometer- oder Rieflerhemmung.  Einige wagten sich gar an die ultimative Herausforderung: das Tourbillon. Bei diesem Mechanismus ist die Hemmung in einen sich permanent drehenden „Käfig“ eingebaut.

Das neuerworbene Modell eines Stiftankergangs von Schlenker & Kienzle

Neuerworben: Gangmodell, Schlenker & Kienzle, Schwenningen, ca. 1920, Inv. 2021-004 (Zum Vergrößern anklicken)

Die robuste Stiftenhemmung war das Brot- und Buttermodell der Schwarzwälder Uhrenindustrie. Sie fand sich in fast allen Weckern, vielen Wand- und Tischuhren sowie Taschen- und Armbanduhren. Die Blütezeit des Stiftankergangs liegt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Billigsegment der Wecker und Armbanduhren konnte er sich noch bis in die 1970er Jahre hinein halten. Viele hundert Millionen Uhren mit Stiftankergang wurden im Schwarzwald gebaut. In der Elektronischen Revolution hatte die bewährte Mechanik ausgedient. Die präziseren Quarzuhren waren bereits um 1980 deutlich billiger zu haben.

Neuerworben: Gangmodell , Schlenker & Kienzle, Schwenningen, ca. 1920, Inv. 2021-004 (Zum Vergrößern anklicken)

Angesichts der überragenden Bedeutung der Stiftankerhemmung für die Uhrenindustrie verwundert es nicht, dass Schlenker-Kienzle als zweitgrößte südwestdeutsche Uhrenfabrik Gangmodelle mit dieser Hemmung herstellen ließ. Denn schließlich wollte man gegenüber den Kunden zeigen, welche Vorteile die verwendete Technologie aufwies. Uhrengeschäfte warben mit den Gangmodellen für die Produkte von Schlenker & Kienzle.

Auf einer kleinen Plakette ist zu lesen, dass das Gangmodell in den Lehrwerkstätten der Firma hergestellt wurde – ein weiterer Hinweis darauf, dass die Ausbilder von der didaktischen Qualität dieser Anschauungsstücke überzeugt waren. 1920 verkürzte die Firma ihren Namen auf „Kienzle“, so das wir davon ausgehen, dass das Gangmodell wohl in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden ist.

Gleichzeitig erworben: Ein zweites Gangmodell einer Stiftankerhemmung, Kienzle, Schwenningen, ca. 1960, Inv. 2021-005 (Zum Vergrößern klicken)

Zusammen mit dem Gangmodell wurde noch ein zweites erworben, das wohl um 1960 bei Kienzle gebaut worden ist. Einige Teile sind aus Acrylglas gefertigt, so dass man nun noch deutlicher die Abläufe innerhalb der Gangpartie beobachten kann. Am grundsätzlichen Aufbau hatte sich in
den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert. Hinzugekommen war allerdings eine Stoßsicherung, durch die Uhren mit Stiftenhemmung noch robuster wurden.

Wir danken dem Förderverein des Museums VfDU ganz herzlich für die Finanzierung des Ankaufs dieser seltenen Stücke!

 

Zum Weiterlesen:

Eduard Saluz: Stiftanker-Taschenuhren aus Deutschland, Furtwangen 2019. (im Museumsshop erhältlich)

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