Angetrieben von weiblicher und männlicher Energie

Werden Uhren eher von weiblicher oder männlicher Energie angetrieben? Die Frage der “sexuellen Orientierung” scheint in diesem Zusammenhang absurd. Doch in den 1880er Jahren wurde sie bei der Einführung neuartiger Uhren ernsthaft diskutiert. Warum diese Diskussion ins Leere führt, zeigt ein neues Objekt in unserer Sammlung.

In einem Feuilleton über Uhren des Wiener Ingenieurs Carl Alber Mayrhofer stellte das Mährische Tagblatt 1887 die Antriebskräfte Druckluft und elektrischer Strom gegenüber:

„Sie [die Druckluft] ist ein weit gröberes, also auch handfesteres Werkzeug wie die Electricität. Sie ist nicht so empfindlich, dabei aber auch weniger launisch.“

Die Pneumatik verkörpere das männliche Prinzip der Stärke und Zuverlässigkeit, die Elektrizität das weibliche der Sensibilität, aber auch der Unberechenbarkeit. Solche Zuschreibungen werfen allerdings eher ein Schlaglicht auf Rollenbilder im 19. Jahrhundert als auf die Funktionsweise von Mayrhofers Uhr.

Warum gab es überhaupt pneumatische Uhren?

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erste elektrische Uhrenanlagen. Mit ihnen sollten alle Zeitanzeigen in einer Fabrik oder Stadt miteinander synchronisiert werden. Doch solche Uhrenanlagen waren anfangs teuer und unzuverlässig. Deshalb ersetzte der Wiener Ingenieur Carl Albert Mayrhofer  Elektrizität durch die erprobte Druckluft-Technik. 1875 ließ er in Wien eine Pilotanlage für pneumatische Uhren errichten. Über diesen Prototyp berichtete ein Unterstützer Mayrhofers begeistert:

„In einem grossen Locale auf dem Franzenringe Nr. 18 sehen wir ein Dutzend Leute beschäftigt, welche in eng gewundenen Reihen, eiserne Röhren an den Wänden befestigen, die untereinander verbunden wurden; an verschiedenen Stellen werden Abzweigungen gemacht. Uhren wachsen gleichsam aus den Wänden; 54 Uhren der verschiedensten Grösse, von der kleinsten Zimmeruhr bis zu der grossen Strassen- und Thurmuhr sind in das 1800 Meter lange Röhrennetz eingeschaltet – die Normaluhr, Auslösewerk, Luft- Compressions- und Nachfüllapparate sind thätig, und dies alles in ein paar Monaten.“

Kaiser Franz Joseph von Österreich (Bildmitte) und Wiens Bürgermeister Cajetan Felder besichtigen die Mayrhofersche Uhrenanlage (Zum Vergrößern klicken).

Am 24. Februar 1877 nahm die Anlage den Regelbetrieb auf. Anfangs war das Interesse groß. Drei Wochen nach der Einweihung besuchten gar Kaiser Franz Joseph I. und Bürgermeister Cajetan Felder die Zentrale.

Doch die pneumatischen Uhren wurden den Erwartungen nicht gerecht. Zahlreiche Pannen begleiteten das Projekt. Bald hatte Mayrhofers Erfindung das Vertrauen verspielt. Pneumatische Uhren waren nicht zuverlässiger als elektrisch gesteuerte Zeitanzeigen.

Elektrisch-Hydropneumatische Uhren

 

Trotz dieses Misserfolgs glaubte Mayrhofer an eine Zukunft der Druckluft im Uhrenbau, wenn sie in Kombination mit Elektrizität eingesetzt wurde. Um 1880 war Elektrizität der Drucklufttechnik überlegen, was die Weiterleitung der Schaltimpulse betraf.  Im Vorteil war die Druckluft, was das Aufziehen der Uhren anging. Diese Kraft mit Strom zu erzeugen, war damals wesentlich kostspieliger. Also kombinierte Mayrhofer in seinem „elektrisch-hydropneumatischen Uhrensystem“ beide Technologien. Er verwendete Elektrität für die Schaltsignale und Druckluft zum automatischen Betrieb der Uhren. Die benötigte Pressluft erzeugte er kostengünstig mithilfe des Drucks der öffentlichen Wasserversorgung.

Elektrisch-hydropneumatisches Uhrensystem: Elektroleitungen (gestrichelte Linien), Rohrsystem (durchgezogene Linien). Zum Vergrößern klicken.

Ist Energie weiblich oder männlich?

Anschluss für “männliche” Druckluft (rechts unten)  und  Klemmen für “weiblichen” Strom (oben). Zum Vergrößern Klicken.

Wie die meisten Erfinder hatte Mayrhofer das Problem, der Öffentlichkeit anschaulich zu erklären, wie seine Neuerung funktionierte. Gerne griffen deshalb Journalisten auf populäre Vergleiche zurück, um die komplizierte Technik verständlich zu machen. So kam auch der eingangs erwähnte Artikel im Mährigschen Tagblatt zustande.

Frauen heute pauschal als “empfindlich” oder gar “launisch” zu bezeichnen, würde zurecht einen Aufschrei entfesseln. Auch auch die Vorstellung von Männern als dem allzeit “starken” Geschlecht ist längst überholt. Eine Analogie zwischen Geschlechtern und Antriebskräften erscheint heute ebenso unangebracht.

Das Uhrwerk im Standuhrgehäuse

Die Mayrhofersche Uhr jedenfalls weist Anschlüsse in beide Richtungen auf: einen Kolben zum stoßweisen Aufziehen der Uhr und Klemmen zum Empfangen der elektrischen Impulse. Ob die Uhren damit  eine nicht-eindeutige sexuelle Identität hatten? Diese Frage wird hier natürlich nicht ernsthaft erörtert. Doch kurios ist die historische Technik wie auch die Zuschreibung von Geschlechterrollen allemal. So kann diese “technologische Sackgasse” immerhin den Blick für Deutungsmuster in jener Epoche öffnen, als rasanter technischer Wandel auf althergebrachte gesellschaftliche Strukturen traf.

Mayrhofers elektro-hydropneumatische Uhren waren ebenso wie das Vorgängersystem ein Misserfolg. Wahrscheinlich wurden nur insgesamt fünf Uhrenanlagen in repräsentativen öffentlichen Bauten Wiens installiert. Die kürzlich vom Museum erworbene Uhr steuerte der Überlieferung nach die Uhren im Hauptgebäude der Universität. Daneben ist heute nur noch ein weiteres vergleichbares Stück im Wiener Uhrenmuseum bekannt. Kein Wunder, dass Mayrhofer und seine Uhren fast vollständig vergessen sind.

 

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