Sommerzeit – oder doch nicht? Zeitchaos vor 75 Jahren

Bei all den rasanten Veränderungen, die zurzeit in Deutschland stattfinden, gerät ein alljährlich wiederkehrendes Ritual fast aus dem Blickfeld: die Zeitumstellung. Und doch fragen sich Ende März sicher wieder tausende Leute – wie muss ich nun die Uhr umstellen? Die Antwort auf diese Frage war schon 1945 gar nicht so einfach.

Wieder einmal wird 2020 die Uhrzeit um eine Stunde vorgestellt – vielleicht zum vorläufig letzten Mal? Doch verglichen mit der Situation vor 75 Jahren sind die heutigen Probleme noch überschaubar.

Zeitchaos in Deutschland

Viktor Klemperer (1881-1960), 1954 (BA, 183-26707-0001 / Höhne, Erich; Pohl, Erich / CC-BY-SA 3.0)

Deutschland im Frühjahr 1945: Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei. Viele Menschen lebten zwischen Trümmern und Ruinen, Lebensmittel waren knapp. Das Land war in vier Besatzungszonen aufgeteilt.

Als wäre das nicht genug, brachten die Alliierten auch jeweils eigene Uhrzeiten mit. Der sowjetische Sektor von Berlin folgte der Zeit von Moskau. Die Bevölkerung musste die Uhren um zwei Stunden vorstellen. Andere Gebiete der sowjetischen Besatzungszone hatten Mitteleuropäische Sommerzeit. Im von Großbritannien kontrollierten Gebiet galt Mitteleuropäische Zeit. Die amerikanische Besatzungsmacht verfügte, ab 2. April 1945 die Zeit um zwei Stunden gegenüber der Normalzeit vorzustellen.

Dieses Zeitchaos beschrieb Victor Klemperer, ein in Dresden lebender Romanist deutsch-jüdischer Herkunft, in seinem berühmt gewordenen Tagebuch. Dort erwähnt er die unterschiedlichen Zeitansagen im Rundfunk:

„Bei jeder Sendung, dutzendemale täglich, gibt Radio Berlin die Zeit an, und das ist ein Segen. Aber wenn Berlin 20 h. sagt, ist es bei uns 19 h. und in Bremen 21 h.: die Russen haben in Berlin Moskauer, in Dresden Sommerzeit, die Engländer in ihrem Rayon mitteleuropäische.”

Viktor Klemperer: So sitz ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1949, Berlin 1999, S. 7.

Improvisation war angesagt

Aus der Not geboren: Sonnenuhr mit zusätzlicher Anzeige der Sommerzeit, Rüter, Berlin, 1946 (Inv. K-1530)

Während des Krieges hatte die Uhrenindustrie militärische Güter wie Zeitzünder hergestellt. Wer in den unmittelbaren Nachkriegsjahren eine neue Uhr brauchte, musste improvisieren. So kam auch die Sonnenuhr für kurze Zeit wieder in Gebrauch – sogar mit einer Skala für die Sommerzeit.

 

Zurück zur Normalität

Das verwirrende Nebeneinander verschiedener Zeiten verschwand bereits wenige Wochen später. Mit der Berliner Deklaration vom 5. Juni 1945 übernahmen die vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich gemeinsam die oberste Regierungsgewalt. Sie bildeten den Alliierten Kontrollrat, der fortan die Geschicke des Landes bestimmte. In ganz Deutschland stellte man die Uhren nun wieder nach Mitteleuropäischer Sommerzeit – wie schon in den Jahren des Zweiten Weltkriegs.

 

Mehr zum Thema Sommerzeit auf unserem Blog:

– Zeitumstellung mit der Funkuhr
– Die Sommerzeit wird abgeschafft – Nicht zu glauben!
– “Endlich wird die Sommerzeit abgeschafft!” – allerdings vor 100 Jahren

 

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