Die fünf Zeiten am Bodensee

Wie spät ist es hier eigentlich?

1885 am „Schwäbischen Meer“: Wer damals eine der beliebten Tagestouren rund um den Bodensee unternahm, musste sechsmal die Uhr verstellen. Warum so kompliziert, wenn es auch einfacher geht? Lesen Sie hier mehr über den teils beschwerlichen Alltag mit den damals geltenden Eisenbahnzeiten.

Die politische Situation am Bodensee

Heute grenzen drei Staaten an den Bodensee: Deutschland, die Schweiz und Österreich. Ende des 19. Jahrhunderts waren es sogar noch zwei mehr: Im Deutschen Kaiserreich hatten das Großherzogtum Baden sowie die Königreiche Württemberg und Bayern ihre Eigenständigkeit bewahrt. Unweit der Sees gab es weitere Kleinststaaten, so etwa Hohenzollern-Preußen und Liechtenstein.

Ansichtskarte mit Landkarte des Bodensees, um 1899, Inv. 100662.  Zur Vergrößerung der Landkarte bitte klicken!

Diese Vielfalt beschrieb eine Ansichtskarte um 1899 in etwas holprigen Versen:

„Wer das Reisen gut versteht,
An den Bodensee auch geht,
Kann von dort der Länder sieben
Besuchen flott je nach Belieben.
In einem Tag zwei Fürstentümer1
Grossherzogtum2 und was nicht schlimmer,
Drei Königreiche3, zwei Kaiserreiche4
Und am Stamm der deutschen Eiche
Erreichen Schweizer-Republik.
Ich wünsche vieles Reiseglück.“

(1Hohenzollern, Liechtenstein, 2Baden, 3Württemberg, Preußen, Bayern, 4Deutschland, Österreich)

 

Die fünf Zeiten am Bodensee, um 1885. (wikipedia, Karte: NordNordWest, Lizenz: Creative Commons by-sa-3.0 de)

Rund um den Bodensee gab es fünf Landeszeiten

Um 1890 war die Mitteleuropäische Zeit in den Ländern am Bodensee noch nicht eingeführt. Jedes Land hatte seine eigene Zeit. Je nach geographischem Bezugspunkt (meist die Hauptstädte) musste man die Uhr an der Grenze um eine unterschiedliche Anzahl von Minuten verstellen.

Kompliziert war die Fahrt von der Schweiz über Karlsruhe, Stuttgart und München nach Innsbruck und dann zurück in die Schweiz um 1890. Während der Reise musste fünfmal an der Uhr gedreht werden!

In einer Broschüre zur Einführung der Mitteleuropäischen Zeit in der Schweiz schrieb ein Berner Professor rückblickend 1894 über diese Reise und die Situation in den Anrainerstaaten des Bodensees:

„In Baden galt Karlsruherzeit; dieselbe geht der Bernerzeit um 4 Minuten vor, also Uhr um so viel vorschieben. In Württemberg galt Stuttgarterzeit, welche der Bernerzeit um 7 Minuten vorgeht, somit noch um weitere drei Minuten vorschieben, in Bayern – Münchnerzeit, welche der Bernerzeit um 16 Minuten vorgeht, also noch weitere 9 Minuten vorschieben, dann in Innsbruck Pragerzeit, welche der Berner 32 Minuten vorgeht, also weitere 16 Minuten vorschieben! Endlich durch den Vorarlberg in die Schweiz, 32 Minuten zurückdrehen!

Auf dem kleinen Fleck des Bodensees treffen wir zu jener Zeit die Karlsruherzeit in Konstanz, die Stuttgarterzeit in Friedrichshafen, die Münchnerzeit in Lindau, die Pragerzeit in Bregenz, die Bernerzeit in Rorschach-Romanshorn.“[1]

Der Alltag mit diesen Landeszeiten war so kompliziert, dass selbst ausgewiesene Experten ins Stolpern geraten konnten – so auch hier: Der Zeitunterschied zwischen Stuttgart und München betrug eben nicht 9 Minuten, sondern 10! Auch zwischen München und Prag lagen nicht 16 Minuten, sondern nur 11. In der Summe addierten sich die Zeitunterschiede zwischen Bern und Prag folglich nicht auf 32 Minuten, sondern auf 28 Minuten. Auch Professoren können irren.

 

Ansichtskarte des Bodensees, 1896. Die Orte an der deutschen Nordseite des Bodensees werden durch Dampfschiffen angefahren; auf der schweizer Südseite existiert seit 1872 eine Verbindung von Bregenz über Romanshorn nach Konstanz. (Inv. 100664). Zum Vergrößern der Karte bitte klicken.

 

Rund um den Bodensee in einem Tag

Fahrplan der Bodensee-Schiffahrt, 1887. (sbb Archiv, Sign. P_B09_0003de.) Zum Vergrößern des Fahrplans zwischen Konstanz und Bregenz bitte klicken!

Aber nicht nur der Fernverkehr, sondern auch bei Ausflügen rund um den Bodensee hatten Reisende die unterschiedlichen Landeszeiten zu berücksichtigen. Anders als heute musste man bei solch einer Tagestour rund um das Schwäbische Meer um 1885 zwingend Eisenbahn und Dampfschifffahrt kombinieren. Denn auf der Nordseite wurde der letzte Streckenabschnitt zwischen Überlingen und Friedrichshafen erst 1901 eröffnet.

Spätestens ab 1877 gab es einen regelmäßigen Schiffsverkehr am nördlichen Bodenseeufer zwischen Konstanz und Friedrichshafen nach Lindau, ab 1885 auch mit Anschluss nach Bregenz.[2] Zurück in den Ausgangsort Konstanz kam man über die Schweiz bequem in wenigen Stunden mit der Eisenbahn. Denn die südliche Bodensee-Gürtelbahn bestand bereits seit 1872.

Die erste Phase der Globalisierung

Eines war im Zeitalter der Telegraphie und schneller Massenverkehrsmittel wie der Eisenbahn deutlich geworden: Um den Überblick zu behalten, wie spät es anderswo ist, musste die Vielfalt der Orts- und Landeszeiten zu größeren geographischen Einheiten zusammengefasst werden. Deshalb schlossen sich die meisten industrialisierten Länder Ende des 19. Jahrhunderts dem heute üblichen Zonenzeitsystem an.

1894 war das Zeitwirrwarr am Bodensee Geschichte. Die Mitteleuropäische Zeit galt seit 1893 in den deutschen Staaten und Österreich-Ungarn, ein Jahr später auch in der Schweiz. An der Grenze stellten die Reisenden nun keine Uhren mehr um.

 

[1] J. H. Graf: Die Einführung der Mitteleuropäischen Zeit (M. E. Z.) in der Schweiz. Gemeinfassliche Darstellung, Bern 1894, S. 10.

[2] Emil Krumholz: Die Geschichte des Dampfschiffahrtsbetriebes auf dem Bodensee, Innsbruck 1906, S. 342.

[3] sbb Archiv, Sign. P_B09_0003de.

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