Wozu brauchte ein Leuchtturmwärter eine Sonnenuhr?

Heute dienen sie allenfalls noch als Kinderspielzeug: Klappsonnenuhren. Doch vor 170 Jahren wurden sie noch als Zeitmesser im Alltag verwendet. Lesen Sie nun den Bericht über die Sonnenuhr eines Leuchtturmwärters.

ZUM VERGRÖSSERN DER BILDER KLICKEN

Was ist eine Klappsonnenuhr?

Die Sonnenuhr im aufgeklappten Zustand, Paul Beringer, Nürnberg, um 1830, Inv. 2022-056

Die Sonnenuhr besteht aus zwei Holzbrettchen, die mit einem Scharnier verbunden sind. Aufgrund der geringen Größe konnte sie z. B. in einer Jackentasche mitgeführt werden.

Um die Zeit abzulesen, muss man die tragbare Sonnenuhr zunächst aufklappen – daher der Name „Klappsonnenuhr“. Auf den Innenseiten werden dann zwei Zifferblätter aus Papier sichtbar. Um die empfindlichen Zifferblätter zu schützen, wurde die Sonnenuhr nach Benutzung wieder zusammengeklappt.

Im offenen Zustand wird im Zifferblatt auf dem Sockel zudem ein Kompass sichtbar. Er dient dazu, die Sonnenuhr vor dem Ablesen der Zeit in Nord-Süd-Richtung zu stellen.  In einem zweiten Schritt muss die Uhr mit dem Lot im hinteren Zifferblatt zusätzlich in der Horizontalen ausgerichtet werden.  Erst jetzt kann die Ortszeit abgelesen werden: Ein diagonal zwischen der Grundfläche und der Rückseite gespannter Faden wirft einen dünnen Schatten auf die Zifferblätter.

Wer hat die Sonnenuhr gebaut?

Der Kompass im Sockel mit den Initialen P. B. für Paul Beringer

Auf dem Kompass sind neben der Bezeichnung für die vier Himmelsrichtungen die Initialen P. B. zu finden. Sie verweisen auf den Sonnenuhr- und Kompassbauer Paul Beringer aus Nürnberg.

Nürnberg war bereits im 16. Jahrhundert für seine Klappsonnenuhren bekannt. Paul Philipp Beringer (1760-1834) und sein älterer Bruder David Beringer (1756-1821) setzten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die jahrhundertelange Tradition fort. Offenbar waren die Beringer-Sonnenuhren sehr erfolgreich. Das lässt sich an der großen Zahl der erhalten gebliebenen Stücke ablesen. Noch heute besitzen viele Museen solche Klappsonnenuhren.

Nach dem Tod von David Beringer übernahm sein Sohn Ulrich Beringer (1789-1864) das väterliche Geschäft. Auch der Ehemann von Paul Beringers Enkelin, Friedrich Negelein (1814-1863), arbeitete noch als Kompassmacher. Doch um 1850 lag das Handwerk der Sonnenuhrmacher “fast ganz darnieder”. Die Ära der Klappsonnenuhren neigte sich ihrem Ende zu.

Wem gehörte die Uhr?

Auf der Unterseite der Eigentümervermerk: “Antonio Parenti, 10. Juni 1845, Palmajola”

Auf der Unterseite hat sich der Besitzer mit seinem Namen verewigt. Es ist dort zu lesen: „Antonio Parenti, 10. Juni 1845, Palmajola“.

Bei Palmaiola handelt es sich um eine winzige Insel zwischen Elba und dem italienischen Festland. Nur wenige hundert Meter breit und lang, ragt sie stolze 85 Meter aus dem Meer empor. Ein einziges Gebäude befindet sich auf dem steilen Felsen: Mit dem Leuchtturm wirkt sie aus der Ferne wie ein leibhaftiger Kinderbuchtraum, nur noch viel kleiner. Selbst das „schöne Lummerland“ in Michael Endes “Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer” ist ja immerhin „eine Insel mit zwei Bergen“ – wie die Babyboomer durch den Titelsong der Augsburger Puppenkiste wissen.

Insel Palmaiola mit dem 1843 errichteten Leuchtturm

Für die Suche nach dem früheren Eigentümer ist es ein Glücksfall, dass es auf der Insel nur ein Gebäude gibt. Antonio Parenti muss wohl in irgendeiner Verbindung mit dem Leuchtturm stehen, dachte sich auch Wolfgang Gall, der frühere Leiter des Stadtarchivs und der Museen in Offenburg. Er vermittelte dem Deutschen Uhrenmuseum die Sonnenuhr.

Gall fand heraus, dass ein Antonio Parenti 1856 einen Orden erhielt, weil er an der Rettung eines Schiffes aus Seenot beteiligt war. Zu dieser Zeit arbeitete er als Hafenmeister im unweit von Elba gelegenen Livorno. Und er war auch für die Inspektion der Leuchttürme in der Region zuständig. Offenbar handelt es sich bei dem erwähnten Antonio Parenti um denselben, der 1845 auf dem zwei Jahre zuvor errichteten Leuchtturm von Palmaiola Dienst tat.

Ordensverleihung an Antonio Parenti (Austria 1856, Bd. 4, S. 410)

Wozu brauchte Parenti die Sonnenuhr?

Um es gleich vorwegzunehmen: Der Leuchtturmwärter hat die Sonnenuhr definitiv nicht zur Ausübung seines Berufs benötigt. Denn bekanntlich beginnt das Lichtsignal der Leuchttürme in der Regel erst in der Dämmerung, also wenn die Sonne bereits untergegangen und eine Sonnenuhr nicht mehr zu gebrauchen ist. Vielmehr nutzte Parenti die Klappsonnenuhr wohl tagsüber im Alltag – wie viele andere Zeitgenossen noch Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn andere tragbare Zeitmesser wie Taschenuhren waren damals für die Allermeisten zu teuer.

Auf der Oberseite: Tabelle mit Angaben der geographischen Breiten von europäischen Städten

Damit die Zeit auf der Sonnenuhr zuverlässig angezeigt werden konnte, musste der Schattenwerfer vor der allerersten Benutzung auf die geographische Breite eingestellt werden. Als Hilfe zur Orientierung diente die Tabelle auf der Außenseite mit den Ortsdaten mittel- und südeuropäischer Städte.

Die Palmaiola nächstgelegene Stadt in der Tabelle ist Florenz bei 43 Grad nördlicher Breite. Ein Blick auf die beiden Innenseiten beweist, dass Parenti die Taschensonnenuhr auf diesen Ort eingestellt hatte. Denn auf den entsprechenden Stellen der beiden Zifferblätter finden sich Bohrungen, durch den der Faden als Schattenwerfer geführt wird. Die Löcher liegen im unteren Zifferblatt genau an der Grenze zwischen den Sektoren für 40 und 45 Grad, im oberen Zifferblatt leicht unterhalb der Markierung zu 44 Grad.

Was wissen wir über das weitere Schicksal der Sonnenuhr?

Aufschluss über den weiteren Weg der Uhr verspricht ein nochmaliger Blick auf das hintere Zifferblatt. In der ursprünglichen Bohrung ist heute das Lot befestigt. Der Schattenwerfer wird aktuell durch ein weiteres Loch bei 50 Grad geführt. Das entspricht etwa der Lage von Frankfurt am Main. Es ist also anzunehmen, dass die Uhr später nach Deutschland kam. Aber offensichtlich wurde sie dann nicht mehr ernsthaft als Zeitmesser verwendet. Denn die Position des Fadens auf der Skala im Sockelbereich hat man nicht geändert. So zeigt die Uhr heute auf den Zifferblättern zwei unterschiedliche geographische Standorte an, die wie Florenz und Frankfurt am Main 1000 km Luftlinie auseinanderliegen.

1982: Übergabe der Sonnenuhr an die Gewinnerin eines Preisausschreibens der Schokoladenfabrik van Houten

Kurios: 1982 veranstaltete die bekannte Schokoladenfabrik Van Houten ein Preisausschreiben, in dem die Sonnenuhr als 2. Preis ausgelobt wurde. Eine Offenburger Lebensmittelhändlerin war die glückliche Gewinnerin, die die Sonnenuhr bis an ihr Lebensende in Ehren hielt. Vor wenigen Monaten konnte das Deutsche Uhrenmuseum die geschichtsträchtige Sonnenuhr von den Erben erwerben.

Kommentar verfassen