Was taten Uhrmacher am Sonntag?

Schwer beladen stapfen diese Männer und Frauen durch heftiges Schneetreiben: Der Sonntägliche Kirchgang zur Winterszeit im Schwarzwald wurde 1896 veröffentlicht. Die Details sind präzise beobachtet, denn der Zeichner kannte dieses Leben aus eigener Erfahrung. Das Bild erzählte auch viel über den Wandel der Uhrenherstellung.

In Furtwangen können wir winterliche Verhältnisse gut nachvollziehen. Hier ein paar Aufnahmen aus den Tagen um den 25. Januar 2021:

Aber schauen wir wieder 125 Jahre zurück: Die Illustration stammt von dem Kunstmaler und Lithografen Gustav Heine. Sein Auskommen fand der gebürtige Furtwanger längst in der kunstsinnigen Stadt München. Der lesenswerte Artikel in der Monatszeitschrift „Das Buch für alle“ (1896/11, S. 260) wendet sich an die städtische Leserschaft; auch uns gibt er einen Einblick in die Schneewinter des Schwarzwalds:

Vergrößern mit Klick aufs Bild (Archiv Deutsches Uhrenmuseum)

“Weg und Steg sind verschneit, man muß sich durch den Schnee arbeiten, um weiter zu kommen, und sinkt oft bis an den Leib in die eisige Schicht. Es wäre jetzt unmöglich, sich zurechtzufinden, wenn nicht zu Anfang des Winters die kleinen Landwege durch eingeschlagene Stangen und Pfähle bezeichnet würden. Um rechtzeitig zur Kirche zu gelangen, muß man schon vor Sonnenaufgang aufbrechen und hinaus in die Eiswüste wandern.”

 

 

 

“Der Kirchgang ist zugleich Geschäftsgang.”

Fast alle, die hier durch das Schneetreiben stapfen, arbeiten in Heimarbeit für die Uhrenindustrie: Die Uhrmacher sind Arbeiter der Fabrikanten geworden. Der Fabrikant oder Unternehmer in der Stadt sammelt die Einzelbestand-teile der Uhren, die in den Bauernhäusern verfertigt werden. Sie stellen die Uhren zusammen und besorgen den Handel und Vertrieb.

Der Kirchgang am Sonntag dient nun den ländlichen Arbeitern dazu, ihre in der Woche fertig gemachten Uhrenbestandteile zu dem Fabrikanten in der Stadt zu bringen, und wir sehen diese Kirchgänger auf unserem Bilde beladen mit großen Tragkörben, Kräzen (Kraxen) genannt, voll von Rädern, Gehäuseteilen, Zeigern, während andere in Säcken die auf Glas gemalten Zifferblätter, Glasschilder benannt, schleppen. Am Ziele angelangt, wird meist nach der Kirche das Geschäft erledigt, die Waren abgeliefert und der Lohn einkassiert“.

Aus Hausgewerblern werden Heimarbeiter
Die traditionelle Uhrenherstellung im Schwarzwald befand sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in tiefgreifendem Wandel. Zählten zeitgenössische Erhebungen in Furtwangen 1875 noch 77 selbständige Uhrmacher, die komplette Uhren in kleineren Werkstätten fertigten (Reuleaux 1875), so ist ihre Zahl 30 Jahre später auf 4 Uhrmacher geschrumpft (Bittmann 1905). Gleichzeitig arbeiteten 93 Männer und Frauen den neuentstandenen Fabriken zu. Ihre in Heimarbeit gefertigten Teile zum Massenprodukt Uhr wurden nur gering entgolten. Im Artikel liest sich diese Tatsache so: „Jetzt gönnt sich der arme Kirchgänger ein Schöppli Wi (Wein) und ein Bierelaibli (Birnenbrot), und dann geht es wieder durch den tiefen Schnee nach Hause. Dort angekommen erwartet den Heimgekehrten die Nudelsuppe und ein Stücklein Fleisch, das wird mit großem Behagen verzehrt, denn die Woche hindurch sieht der arme Schwarzwälder kein Fleisch auf seinem Tische.“

„Der Schwarzwälder ist lustig”
Ganz nebenbei widerspricht der Text dem falschen, aber immer noch populären Bild des Tüftlers, der abgewandt von der Welt in einsamen Höfen seiner Arbeit nachgeht: „der Schwarzwälder ist lustig, von fröhlicher Gemütsart und läßt sich so leicht durch diese Strapazen die Laune nicht verderben“. Diese Lesart hat Gustav Heine selbst vorgegeben,  die Menschen auf seiner Zeichnung sind sonntäglich guter Dinge.

Der Artikel von 1896 ist hier als Digitalisat abrufbar.

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