Auf einem Speicher tauchte vor kurzem eine unscheinbare Holzkiste auf: Im Innern ein Turmuhrwerk, typisch für das Schonacher Traditionsunternehmen von Benedikt Schneider. Aber wieso war das Uhrwerk ungewöhnlich klein, und warum wurde es offensichtlich nie benutzt?
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Turmuhrenfabrik Schneider
Über das Traditionsunternehmen, das sich noch heute in Familienhand befindet, ist nur relativ wenig bekannt. Deshalb soll hier zunächst kurz über die 160jährige Geschichte der Firma berichtet werden.
1862 gilt als Gründungsjahr des Unternehmens. Eine erste Turmuhr wurde damals vor Ort verkauft. Das Versandbuch von Firmengründer Benedikt Schneider beginnt mit den Worten:
„1862 – eine 12-Zoll-Turmuhr mit Viertelschlag, Räder von Messing, drei neue Zifferblätter und Stundenzeiger, 900 Gulden, für Gemeinde Schonach.“
Ein Gedenkartikel zum 100jährigen Bestehen im Südkurier vom 15. Dezember 1962 berichtet ferner, dass sich das Geschäft mit den Turmuhren anfangs noch nicht selbst trug. Wie bei vielen anderen Uhrenwerkstätten im Schwarzwald nahm die Landwirtschaft zur Selbstversorgung einen ebenso großen Anteil der täglichen Arbeitszeit in Anspruch wie der Uhrenbau. Doch bald ging es aufwärts. Denn die Nachfrage nach öffentlichen Zeitanzeigen nahm stark zu.
Spezialist für besonders robuste Uhrwerke
Bis zum Ersten Weltkrieg stellte Schneider neben eigentlichen Turmuhrwerken in größeren Stückzahlen sogenannte Perron-Uhren her, also Uhren für den Bahnsteig. Dieser heute weitgehend vergessene Uhrentyp bestand aus einem kräftigen Gehwerk, das in ein solides Standuhrgehäuse eingebaut war. Verwendet wurden diese Uhren meist in den Wartehallen kleinerer Eisenbahnstationen. Von der Uhr führte häufig ein Getriebe durch die Wand, um die Zeiger an den großen Zifferblättern am Bahnsteig zu bewegen.
Die Turmuhrwerke von Schneider waren modular aufgebaut. Gehwerke konnten für die Verwendung im Kirchturm mit einem Schlagwerk für den Stundenschlag kombiniert werden. Durchaus üblich war, dass die Turmuhren noch mit einem Schlagwerk für die Viertelstunden ausgestattet waren. Zusätzlich konnte ein drittes Schlagwerk angehängt werden, das die Stundenschläge in kurzem Abstand wiederholte – praktisch für diejenigen, die sich nicht sicher waren, ob sie beim ersten Mal korrekt alle Schläge der Kirchturmuhr mitgezählt hatten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bot man bei Schneider erstmals Turmuhren an, bei denen das schweißtreibende Aufziehen der Gewichte von Hand durch einen Elektromotor übernommen wurde. Alle paar Stunden wurde über einen Schalter am Uhrwerk der Motor angestellt, bis die Gewichte nach oben gezogen waren. Ebenfalls neu war damals eine zusätzliche elektrische Signaleinrichtung, die z. B. einen Gong oder Sirene für individuell einstellbare Pausenzeiten in einem Betrieb oder einer Schule auslösen konnte.
Vor allem im ersten Jahrhundert der Firmengeschichte baute Schneider eine große Zahl an Turmuhrwerken, überwiegend für den badischen Raum, aber auch für die angrenzende Schweiz. Aber Schneider verkaufte Uhren auch in andere Länder und Kontinente. Bereits 1885 soll die argentinische Stadt Parana den mit damals sagenhaften 17.531 Mark vielleicht größten Auslandsauftrag in der Firmengeschichte erteilt haben.
1958 gab Schneider die Herstellung mechanischer Turmuhren endgültig auf. An ihre Stelle waren längst Uhrenanlagen getreten, wie sie in vielen Betrieben und Städten üblich waren. Die Zentraluhren befanden nicht mehr hoch oben im Turm, sondern konnten in jedem beliebigen Raum untergebracht werden. Über Kabelverbindungen wurde die Zeit als elektrischer Impuls an die Nebenuhren im Turm weitergegeben, die mit einem Elektromotor ausgestattet waren, damit sich die Zeigerwerke in den Türmen bewegten.
Die anfangs noch mechanischen Mutteruhren wurden ab den 1970er Jahren mehr und mehr durch Quarzuhren und später dann durch Funkuhren ersetzt. Noch heute stattet Schneider in Schonach Kirchen und andere öffentliche Gebäude mit vergleichbaren Einrichtungen aus.
Die Liliputausgabe eines Schneider-Werks
Das neu erworbene Uhrwerk sieht denen von Schneider zum Verwechseln ähnlich. Es besteht aus vier modularen Einzelwerken, einem Gehwerk mit der typischen Form der Platinen in Anlehnung an barocke Giebel, rechts die beiden Stundenschlagwerke und links das Viertelstundenwerk. Auch die säulenförmigen Füßchen stimmt mit denen von Schneider überein. Zusätzlich ist die Uhr mit einem Zeitschalter und einem Kontaktpaar zur Steuerung von Nebenuhren ausgestattet.
Allerdings sind die Außenmaße gegenüber den kleinsten Schneider-Serienmodellen um etwa 40% reduziert. So beträgt die maximale Höhe nur 21 cm gegenüber 36 cm wie bei einem kleinen Schneider-Uhrwerk. Durch die maßstäbliche Verkleinerung in allen drei Dimensionen wirkt die Uhr winzig, denn das Volumen der Uhr schrumpft dadurch auf etwa ein Fünftel.
Wieso aber wurde das Uhrwerk verkleinert? Es hatte ja damit nicht die Stabilität, die es für den jahrzehntelangen Einsatz auf zugigen Kirchtürmen bräuchte. Andererseits machte es keinen Sinn, solche Uhren in Innenräumen zu verwenden. Dafür waren die Uhrwerke mit ihren massiven Zahnrädern überdimensioniert – viel zu aufwändig in der Herstellung verglichen mit einer herkömmlichen Zimmeruhr oder auch einer Mutteruhr.
Des Rätsels Lösung
Als wir eine Email mit der Frage erhielten, um was für ein Uhrwerk es sich handelte, waren wir zunächst etwas ratlos. Doch durch den Hinweis des Besitzers, wo die Uhr herstamme, konnten wir langsam Licht ins Dunkel bringen. Das Uhrwerk wurde 2023 auf dem Speicher eines Hauses in Schonach gefunden, das einer Familie Hörmann gehört hat.
Unsere Recherchen ergaben, dass sich unter den Vorfahren der Uhrmacher Kosmas Hörmann befand. 1869 geboren, arbeitete der Schwiegersohn des Firmengründers Benedikt Schneider von den 1890er Jahren bis um 1930 als Konstrukteur in der gleichnamigen Schonacher Turmuhrenfabrik. In einem Gedenkartikel zu seinem 90. Geburtstag berichtet die Neue Uhrmacherzeitung 1959 im Heft 20 auf S. 40 über den Jubilar:
„Der zweitälteste Einwohner, Uhrmachermeister Kosmas Hörmann, wurde im Oktober 90 Jahre alt. Sein Lehrherr war Salomon Hettich, ein im Schwarzwald bekannter Meister. Nach der Militärzeit ging er wieder zur Uhrmacherei. Auf Wunsch seines Schwiegervaters, dem Besitzer der Turmuhrenfabrik, trat er in diesen Betrieb ein. Volle dreieinhalb Jahrzehnte war er hier ein Bastler und Erfinder. Hatte ein Kunde einen Sonderwunsch, wurde der Jubilar damit betraut. Die originellste Turmuhr konstruierte er für England. Später machte er sich noch selbständig und fertigte Einzelteile an, die er auch als Heimarbeit vergab. Sein Betrieb ist inzwischen auf seinen Sohn Emil Hörmann übergegangen, aber der Altmeister steht ihm heut noch mit Rat und Tat zur Seite.“
Bei der Uhr handelt es sich also mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Muster oder einen Prototyp, den Hörmann für die Turmuhrenfabrik hergestellt hat. Die geringe Größe spricht dafür, dass die Uhr von der Firma Schneider als Demonstrationsobjekt z. B. auf Industriemessen verwendet wurde. Das erklärt auch, wieso diese Miniaturversion mit zahlreichen Funktionen ausgestattet war. Anhand des Hochglanzstücks konnte man potentiellen Kunden die Leistungsfähigkeit der Schneider-Produkte erläutern.
Für das Deutsche Uhrenmuseum ist das Uhrwerk sehr wertvoll, weil es einen ungewöhnlichen Einblick in die Geschichte der Schwarzwälder Uhrmacherei eröffnet. Es zeigt die enge private und berufliche Verflechtung der Familien in Uhrmacherorten wie Schonach.
Das Museum erhielt dieses besondere Uhrwerk als Spende. Vielen herzlichen Dank für diese großartige Ergänzung unserer Sammlung.
Eine sehr interessante Geschichte! Ein Werk nur für Messezwecke ist mir noch nicht untergekommen. Wird es eine Gelegenheit geben, das gute Stück im Uhrenmuseum zu bestaunen?
Das Uhrwerk wird auf der Furtwanger Antikuhrenbörse am 24. und 25. August 2024 zu sehen sein.