Schneelawinen im Schwarzwald? An diese Gefahr denkt man bei unserem Mittelgebirge kaum. Doch das bis heute schwerste Lawinenunglück Deutschlands fand vor genau 175 Jahren nahe Furtwangen statt: auf dem Königenhof bei Neukirch.
Der Lawinenabgang hatte eine solche Wucht, dass er einen Hof aus dem Fundament hob und völlig zerstörte. Der dramatische Hergang, 16 Todesopfer und dazu die Einzelheiten einiger geglückter Rettungsaktionen: Die Meldung erregte damals landesweite Anteilnahme und Spendenbereitschaft. Die Unglücksnacht wurde vom zuständigen Triberger Bezirksamt genauestens dokumentiert und findet in allen Chroniken Erwähnung. Nicht zuletzt daher sind die Hofstätte und ihre Geschichte auch heute noch in der Region bekannt.
Im Schwarzwald, tief im Wagnerstal bei Neukirch…
Am Abend vom 24. Februar 1844 saßen der Königenhofbauer, Martin Tritschler, einige Hofbewohner und Nachbarn beim Cegospielen, Frauen und Kinder waren bereits zu Bett gegangen.
Im benachbarten „Königenhäusle“ (s. Blogbeitrag) hörte die Frau des Uhrengestellmachers Beha gegen 11 Uhr nachts ein „Schausen wie von einem Windstoß“, sogar die Wände erzitterten. Da es bereits den ganzen Tag gestürmt hatte, ging sie arglos zu Bett. Erst in den frühen Morgenstunden sorgten sie und ihr Mann sich um die beiden kartenspielenden Söhne, sollten sie doch Uhrengestelle ausliefern. Als der Vater nebenan nachsah, fand er an der Stelle des Königenhofes nur noch Schneemassen vor. Auf die entsetzten Suchrufe des Ehepaars und eines Nachbarn kam erleichternde Rückmeldung, nämlich die der Töchter des Hofes: „Wir vier leben noch!“ Tatsächlich konnten sie schon Stunden später befreit werden.
Bald eilten Hunderte von Helfern aus allen Tälern herbei, um zu retten, was zu retten war. Weitere vier Hausbewohner konnten lebend geborgen werden, ein fünfter verstarb kurz seiner Rettung. Fünf Metzger führten vor Ort Notschlachtungen am “halbtoten” Vieh im Schnee durch, das Schaudern der Berichterstatter durchdringt die Texte. Erneuter Frost ließ die Schneemassen zu Eis erstarren und erschwerte so die Sucharbeiten.
Fast eine Woche sollte es dauern, bis feststand, dass 5 Kinder und 11 Erwachsene unter der Lawine ihr Leben gelassen hatten. Auf Schlitten wurden sie zur eineinhalb Stunden entfernten Kirche nach Neukirch überführt und aufgebahrt. Auf dem Friedhof erinnert noch heute eine gusseiserne Gedenktafel an ihre Namen.
Wie konnte es zu dieser Lawine kommen?
Am Hang oberhalb des Königenhof lag der Schnee mehr als drei Meter hoch. Mehrfach hatte es hineingeregnet, mit Tauwetter während des Tages setzten sich die Schneemassen in Bewegung. Schon gegen 6 Uhr abends ging ein Schneebrett ab und zerstörte den Bienenstand. Doch die Gemüter beruhigten sich wieder und man fühlte sich sicher unter dem mächtigen Dach des Hofes. Die Gewalt der zweiten Lawine zeigte eine ganz andere Schubkraft: Sie hob das über einhundertjährige Holzgebäude an und verschob es um mehrere Meter, bevor es völlig zerdrückt wurde.
Die detailreiche Zeichung von Casimir Stegerer zeigt die Situation: Der steile Hang hinter der Ruine ist waldfrei, die hohen Abbruchkanten im Schnee deuten an, welche Schneefläche hier in Bewegung kam. Den Hangwald hatte der Hofbauer zuvor abgeholzt und verkauft. Unter diesem Schutz wäre es nie zu dieser Katastrophe gekommen, hierin sind sich frühere und heutige Experten einig.
Der Hof wurde nicht mehr aufgebaut. Rund 140 Jahre später gibt es jedoch weitere Erkenntnisse zum Verbleib einiger überlebender Familienmitglieder:
“Die Tritschlerschen älteren Kinder ziehen heimatlos umher.” notiert der Neukircher Pfarrer zwei Monate nach dem Unglück. Bibiane, die sich als einzige selbst aus dem Schnee befreien konnte, bleibt unverheiratet. Zeitweise ohne festen Wohnsitz, hat sie vier Kinder, denen das Stigma “unehelich” anhaftet.
Eine der Königenhof-Töchter, Theresia Tritschler, erlag laut Amtsprotokoll kurz nach dem Unglück ihren Verletzungen. Das stimmte offenbar nicht, denn 1853 heiratete sie nach Bräunlingen, in den dortigen Kirchenbüchern fand sich auch ihr Sterbeeintrag von 1863.
Ein weiterer Sohn des Hofbauern, der damals erst 12-jährige Matthä Tritschler, arbeitete auswärts und war am Unglücksabend nicht auf dem Hof. Ab 1853 war er in London im Uhrenhandel tätig. Mit 29 Jahren verstarb er im Schwarzwald, in Urach. Dort wurde er auch beigesetzt, gerade ein Tal von seiner früheren Heimat entfernt.
Die vielerzählte Unglücksnacht wurde auch Stoff für ein Theaterstück zum „Untergang des Königenhofes“. Das Stück von Albert Faller aus St. Märgen wird seit den 1950er Jahren immer wieder in der Region aufgeführt. Anlässlich des 175. Jahrestags wird es auch 2019/20 in Neukirch neu inszeniert. Wie groß das Interesse an dieser denkwürdigen und berührenden Tragödie ist, zeigt die Tatsache, dass alle Vorstellungen längst ausverkauft sind.
Ein Kommentar zu „Schneelawine im Land der Uhrmacher“