Wieso stieg Junghans in den 1890er Jahren zu einer der größten Uhrenfabriken weltweit auf? Antworten darauf gibt die Lebensbeschreibung des Arbeiters Berthold Schneider.
ZUM VERGRÖSSERN DER BILDER KLICKEN
Die Lebensbeschreibung von Berthold Schneider
1949 hat der Arbeiter Berthold Schneider einen 300 handschriftliche Seiten umfassenden Rückblick auf sein eigenes Leben verfasst, der bislang unveröffentlicht ist.
Schneider, 1870 in Schonach geboren und 1956 in St. Georgen gestorben, beschreibt darin seine berufliche Laufbahn in der Uhren- und elektrotechnischen Industrie. Sie führte ihn von der Ausbildung in einem der letzten hausgewerblichen Betriebe der Schwarzwälder Holzuhrmacherei über Stationen in Bregenz, Schwenningen, Schramberg, Osnabrück, Köln und Frankfurt nach St. Georgen, wo er 1911 eine Lebensstellung bei Mathias Bäuerle in St. Georgen fand.
In seinem langen Berufsleben erlebte Schneider den Übergang von der handwerklichen Uhrenfertigung zur Uhrenindustrie. Diese Schilderung der Umwälzungen in der Uhrenherstellung aus Sicht eines Arbeiters sind einzigartig.

Vor einiger Zeit ist auf dem Blog bereits ein anderer Ausschnitt aus der Autobiographie erschienen. Damals stand Schneiders Tätigkeit bei der Niederlassung von Mauthe in Bregenz im Mittelpunkt.
Heute geht es um die Junghans Uhrenfabriken in Schramberg, wo Schneider zwischen Spätsommer 1891 und April 1898 arbeitete, unterbrochen durch seinen zweijährigen Militärdienst. Schneider erläutert aus eigener Erfahrung, wieso Junghans in diesen Jahren zu einer der größten Uhrenfirmen weltweit aufstieg.
Der erste Tag
Als Schneider 1891 seine Arbeit bei Junghans begann, war die Firma aus kleinen Anfängen in den 1860er Jahren bereits zu einem ausgedehnten Industriekomplex angewachsen:
„Als ich dann das erste Mal ins Geschäft ging, wurde ich am Tor beim Portier vom zukünftigen Meister abgeholt. Derselbe hieß Müller und wohnte in Lauterbach, wo er ein Haus sein eigen nannte. Vom Tor bis zur Arbeitsstelle war noch ein gut Stück Weg zu laufen. Beim Eingang in die Fabrik sah man große Bretterlager und ein Trockenhaus. Für die Uhrenkasten-Schreinerei waren wieder andere Gebäude vorhanden. Darinnen befand sich ein Staubsauger, dessen Brummen man weit in der Umgebung hörte. Die ganze Fabrikanlage setzte sich aus sehr vielen Gebäuden für die verschiedenen Zwecke zusammen, die vielfach durch Brücken miteinander verbunden waren.“

Montage der Uhrwerke
Schneider war bei Junghans für die Endmontage der Uhrwerke zuständig. Zuvor waren die Einzelteile bereits zusammengesetzt worden. Dafür wurden ungelernte Arbeiterinnen eingesetzt, die diese Tätigkeit dank ausgeklügelter Vorrichtungen ungleich schneller als in anderen Betrieben ausführen konnten. Voraussetzung war eine weitgehende Standardisierung der Einzelteile. Schneider berichtet, dass Junghans durch den eigenen Werkzeug- und Vorrichtungsbau anderen Betrieben um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte voraus war. Durch diese vergleichsweise frühe Einführung arbeitskräftesparender Prinzipien der Massenfertigung konnte Junghans seine Produkte deutlich günstiger anbieten als die Konkurrenz:
„Ich kam in die Uhrenzusammensetzerei, die sich im dritten Stocke eines großen Gebäudes befand. Im Zusammensetzer-Saal war ein kleinerer Raum, durch einen Verschlag abgegrenzt. Darin arbeiteten nur Mädchen oder Frauen. Unbefugter Eintritt konnte mit Entlassung bestraft werden. Jede Arbeiterin hatte eine sogenannte Zusammensetzmaschine vor sich. Neben sich Kisten mit Rädern und Gestellen und Gestellplatinen.
Die Arbeiterinnen legten nun die Gestellplatine in die Vorrichtung und steckten die einzelnen Räder gleich in das zustehende Zapfenloch. Schieber in der Zusammensetzmaschine hielten die Räder senkrecht fest. Auch die Räder für das Schlagwerk wurden mit Hilfe der Schieber auf den Zahn genau in die richtige Stellung gesetzt. Darauf wurde die obere Platine über die Pfeileransätze geschoben und die Räderzapfen sprangen in die Zapfenlöcher sofort ein. Über die Pfeilergewindeansätze wurden dann Muttern geschraubt. Damit ja kein Griff verloren ging, war über jede Arbeiterin an der Decke ein Kurbelmaschinle aufgehängt zum Aufkurbeln der Muttern. Die so zusammengesetzten Werke kamen in ein Fach, das für zwanzig Stück vorgesehen war.“

Berthold Schneiders Aufgabe bei der Montage
Nachdem die Uhren durch die Arbeiterinnen vormontiert waren, kontrollierte Berthold Schneider die Funktion der Werke und veränderte – wenn nötig – das Ineinandergreifen der Einzelteile. Aufschlussreich dabei, dass er dafür seine eigenen Werkzeuge verwendete:
„So ein volles Fach bekam ich dann, um die Uhren darin fertig zu machen. Schon von der ersten Stunde an mußte ich im Akkord arbeiten. Zuerst stellte ich mir einige Hilfswerkzeuge her. Das waren Zieheisen um die Seitenluft der Räder zu regulieren. Das konnte man gut damit, weil die Platinen durchbrochen waren. Ferner brauchte ich einen starken Zeiger, um das richtige Auslösen und Abfallen der Warnungsbengel festzustellen. Das hierzu nötige Material konnte man kaufen. Das Kleinwerkzeug, wie Zangen, Feilen und Reibahlen mußte man selber stellen damals.
Daraus kam man sehen, wie alles organisiert war, damit der Firma kein Pfennig nebenhinaus ging.“
Anschließend wurden die Uhrwerke noch einmal an anderer Stelle kontrolliert und mindestens einen Tag laufen gelassen, um festzustellen, ob die Uhren vor- oder nachgingen. Gegebenenfalls wurde dann der Gang noch einmal verändert.